Brief an einen Freund

Lieber Hiltfried,

wir haben uns viel zu spät, aber immer noch rechtzeitig kennengelemt, um nun fast zwanzig Jahre befreundet zu sein.

Als wir uns durch einen gemeinsamen Freund kennen lernten, brauchtest Du zur Fortbewegung einen Rollstuhl und beim gegenseitigen Gedankenaustausch bestimmte das Prinzip „Entschleunigung“ das Tempo, denn ein Schlaganfall hatte Dein früher lebhaftes, rheinisches Temperament begrenzt, so schien es mir.

 

Aber etwas Beständiges war Dir aus früheren Tagen geblieben, das unter anderen Umständen Deine Lebensbestimmung hätte werden können. Deine Liebe zur Kunst und die Fähigkeit, künstlerisch tätig zu sein!

Staunend stand unsere Künstlergruppe, in die Du eingetreten wärest, bei unserer ersten, gemeinsamen Ausstellung vor Deinen Bildern!

 

ln ihnen leuchteten, strahlten, atmeten gegenständliche Motive aus der Natur. Deine naturalistische Malweise überzeugte in Deinen Stilleben, Landschaften und Portraits! Deine Malweise war stilistisch, perspektivisch und handwerklich im Sinne der „Alten Meister“. In unseren Gesprächen erfuhr ich von Deiner Beharrlichkeit, alte Maltechniken wieder zu entdecken und sie anzuwenden! Für Dich sollte Kunst aber über den Alltag hinausführen, das Schöne zeigen, auch wenn die Tränen aus einem gemalten Mädchenauge der Trauer entspringen. „Das Schöne kann auch des Schrecklichen Anfang sein“, wie der Dichter sinngemäß sagt. Unsere Gespräche berührten auch Deine Biografie. 1925 bist Du geboren, fünfzehn Jahre vor mir. Vom Alter konntest Du nicht mein „Vater“ sein, auch nicht mein „gleichaltriger“ Freund, aber Du wurdest ein „väterlicher Freund“, denn in der Zeit, in die Du in Deiner Jugend gestellt wurdest, veränderte sich Europa mehr als in vielen Tausend Jahren!

 

Mein Vater wollte oder konnte mir nichts aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs erzählen, aber Du berichtetest mir manchmal sparsam, mit nachdenklichen Worten von Deinen Erfahrungen und von den Orten, wo Du sie gemacht hast. Und ich kannte einige der„Schauplätze“ aus dem Urlaub in Finnland, Ex-Jugoslawien und Italien und die beeindruckenden Landschaften und glaube Deine Bilder verstehen zu können. Mir scheint die Landschaften haben sich so intensiv in Dir eingeprägt, weil die Erlebnisse, die Du in Ihnen gemacht hast so stark waren. In den verschneiten Wäldern Kareliens belauerten sich im Finnischen Winterkrieg zwei starke Gegner, stundenlang, tagelang. Das leiseste Geräusch, eine leichte Bewegung und ein Scharfschütze traf. Die Küste der Adria ist eine Traumlandschaft! Sommer, Sonne ein grün-blaues Meer mit schlagenden Wellen und einsamen Buchten, mit bizarren Büschen und Bäumen. Leises Anschleichen, denn in einer der Buchten schaukelt eine weiße Jacht. Das Ziel. Nach Stunden der Beobachtung stürmt ihr sie, aber der gesuchte General hat nur seine Mütze hinterlassen! Mittelitalien, mit seinen sanften Bergen, plötzlichen Felskuppen, mit dunkelblauen Pinienwäldern, mit gewundenen Bergstraßen und endlosen Steinmauern vor weißen Häusern unter blauem Himmel und von dort schwebt Ihr über Monte Casino mit einem Lastensegler ein, um einen berühmten italienischen Politiker zu befreien. Jede Sekunde muss sich in Deiner Erinnerung in Zeitlupe gedehnt haben - aber geblieben ist die mediterrane Landschaft, die Ereignisse sind vom Lauf der Geschichte wie weggewischt, wer spricht noch von ihnen?

 

Aber Deine Bilder, mit den Landschaften, die Du Dir eingeprägt hast, mit ihren südländischen warmen Farbtönen und ihrer Harmonie

bestehen! Auch bei unserem gemeinsamen Freund Helmut Gockel haben sich Kriegserlebnisse in Kunst verwandelt. Ihn haben die grandiosen Fels- und Fjordlandschaften Norwegens fasziniert, die Mitternachtssonne und das Licht des Nordens. Auch mit ihm konnte ich über Land und Leute sprechen, weil ich einige Male in Norwegen war.

 

Nach dem Krieg wurdest Du Geschäftsführer einer Gastronomiekette, die sich auch um die Bewirtung von Gästen der Bundesregierung in Bonn kümmerte und Du lerntest viele Politiker persönlich kennen. Schon in dieser Zeit maltest Du Portraits und Landschaften und hast viel zur Philosophie gelesen und über die Erkenntnisfähigkeit des Menschen nachgedacht. Dies wurde auch nach Deinem Schlaganfall 1994 oft der Ausgangspunkt für unsere Gespräche, in denen wir uns vorsichtig an unser Wissen über die Evolutionäre Erkenntnistheorie herantasteten, wie sie von Hoimar von Dithfurt, „Der Geist fiel nicht vom Himmel“, vermittelt wird. Und es fiel auch der Name Immanuel Kant, der sinngemäß nach v. Dithfurt sagt, unser Denken folge angeborenen Strukturen beim finalen oder kausalem Denken. Beim Namen „Kant“ streifte Dein Blick Deine versammelten Kantbücher im Regal und bedauernd sagtest Du, früher konnte ich das alles noch lesen und verstehen, heute habe ich am Satzende den Satzanfang schon vergessen!

Lieber Hiltfried, für mich wirst Du bei all Deinen Einschränkungen ein Vorbild im Ertragen von Handikaps aller Art sein!

 

Und es wird Dich überraschen. Dein ganzer Kant ist dank Chris in die Hände eines jungen Philosophen an der Bonner Uni gegangen, an den Mann meiner Enkeltochter, der schon als Dozent tätig ist und Dich durch meine Erzählungen kennt. Er bedankt sich sehr!

Am alten Hortsmarer Landweg durch die Beerlage steht eine kleine Kapelle. Neben ihr steht auf einer Holztafel:

„Uns alle trägt der Dinge äußerer Schein,

wir sehen Rätselbilder hier auf Erden,

der Schöpfer einzig kennt das wahre Sein!“

 

Lieber Hiltfried, können wir über diesen Spruch diskutieren?

 

Dein Arnold

(Hiltfried Braun, 1925-2017)